Unser „inneres Kind“ ist ein Teil von uns, es gehört zu uns und beeinflusst mal mehr und mal weniger unsere Wahrnehmungen und Reaktionen – egal wie „erwachsen“ wir sind.
Ist unser inneres Kind wohlgenährt, bereichert es unser Leben mit Neugierde, Lebendigkeit, Kreativität und Lebensfreude. Ist es dagegen immer noch auf der Suche nach ausreichend Liebe, Fürsorge, Schutz oder Mitgefühl, kann dies dazu führen, dass wir uns auch im erwachsenen Alter noch wie ein bedürftiges Kind verhalten, uns ohnmächtig, antriebslos, unkreativ und entscheidungsunfähig fühlen. Typisch hierfür sind beispielsweise Beziehungen mit einem Partner, der unserem Vater ähnelt und von dem wir uns erhoffen, dass er uns endlich die Sicherheit und Liebe gibt, was wir als kleines Mädchen so vergeblich gesucht haben. Oder Chefs, für die wir uns mächtig ins Zeug legen, weil wir auf die Anerkennung hoffen, die uns als Kind gefehlt hat. Auch gesellschaftlich zeigt sich dieses Muster in Form des braven Bürgers, der im „Vater Staat“ die Fürsorge sucht, nach der er bereits als Kind gehungert hat. Ein solcher „braver Bürger“ ist nicht in der Lage Fakten kritisch zu reflektieren, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten – vielmehr entspricht sein Verhalten in Beziehung zu vermeintlichen Autoritäten, dem eines abhängigen Kindes. All diesen Verhaltensmustern ist gemein, dass sie im Außen nach der Befriedigung von emotionalen Bedürfnissen suchen, von denen wir in unserer Kindheit nicht ausreichend genährt wurden, nicht „satt“ geworden sind.
Doch diesen Hunger kann weder der Partner, der Chef oder die Regierung in uns stillen kann – selbst, wenn sie es wollten. Aber dafür sind wir mittlerweile erwachsen geworden und können lernen unser inneres Kind selbst mit allem zu nähren, was uns damals gefehlt hat – mit Liebe, mit Verständnis, mit Schutz, mit Mitgefühl, mit Fürsorge, mit Anerkennung und mit allem anderen, an was es uns gefehlt hat. Ähnlich, wie wir uns unseren eigenen (oder auch anderen) Kindern zuwenden würden, wenn wir sie verängstigt, wütend oder traurig sehen würden, können wir uns unserem inneren Kind zuwenden, mit Aufmerksamkeit, Liebe, Mitgefühl und Verständnis. Dieses liebevolle Angenommen sein und Gesehen werden hilft unserem inneren Kind genauso wie einem „echten“ Kind.
Haben sich die Verletzungen in der Kindheit zu einem Entwicklungstrauma gehäuft, sind die Erfahrungen und die Gefühle zu schrecklich für das Kind, um ausgehalten und verarbeitet werden zu können – verdrängt das Kind sie. Kindliche Persönlichkeitsanteile opfern sich und werden zusammen mit diesen vernichtenden Gefühlen abgespalten, damit das Kind nicht daran zerbricht. Diese abgespaltenen Anteile warten dann darauf, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem das Kind erwachsen und ausreichend stark geworden ist, die damals übermächtigen Gefühle nun aushalten zu können und sie wieder integriert. Bis dahin bleiben sie in dem kindlichen Alter stecken.
Werden wir dann als Erwachsene von äußeren Situationen getriggert, die ähnlich zu unseren Kindheitserfahrungen sind, werden auch unsere abgespaltenen Persönlichkeitsanteile getriggert und können die Führung bei unserer Reaktion übernehmen. In diesem Fall reagieren wir nicht mehr wie ein erwachsener Mensch, sondern wie das verletzte Kind von damals. Je nach Stärke der Abspaltung kann es sogar sein, dass wir uns später kaum an unsere Reaktionen erinnern, dass wir gar keinen Bezug zu diesem Anteil in uns haben.
Die Heilung besteht nun darin, dass wir diesen abgespaltenen Anteil von uns wieder integrieren, dass er heilen und erwachsen werden kann. Dies geschieht dadurch, dass wir uns seiner bewusst werden und ihn liebevoll annehmen – mit all seiner kindlichen Wut, Trauer, Verzweiflung. Er hat sich für uns geopfert und wir dürfen ihm danken und ihm unser ganzes Mitgefühl als Erwachsener schenken. Die dabei aufsteigenden Gefühle können leichter ausgehalten werden, wenn wir es schaffen, uns nicht mehr mit ihnen zu identifizieren, sondern sie als Reinigungsprozess erkennen.
Das Verzwickte an der Arbeit mit dem eigenen inneren Kind ist es, dass viele Menschen sich ihrer emotionalen Verletzungen, ihrer Glaubenssätze und der abgespaltenen Anteile gar nicht bewusst sind. Oftmals erkennen wir diese blinden Flecken erst, wenn wir im Außen getriggert werden, wenn wir in immer wieder ähnliche Situationen geraten, wenn wir bei Kleinigkeiten „an die Decke gehen“. Bei vielen Konflikten in Partnerschaften sind es nicht mehr Mann und Frau, die auf Augenhöhe miteinander diskutieren, sondern der kleine innere Junge und das kleine innere Mädchen, die die Führung übernehmen. Solche Konflikte sind daher eine wunderbare Chance Verletzungen des inneren Kindes ins Bewusstsein zu holen, um sie heilen zu können.
Ein wunderbares Buch für die Arbeit mit dem eigenen inneren Kind ist für mich
Stahl, Stefanie (2015). Das Kind in dir muss Heimat finden. München: Kailash.
Zur Weiterarbeit und vor allem bei tieferen Verletzungen finde ich folgendes Buch extrem hilfreich
Charf, Dami (2020). Auch alte Wunden können heilen: Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wir dennoch Frieden in uns selbst finden können. München: Kösel.